Es kann gute Gründe dafür geben, mehrere Erzähler in eine biografische Geschichte einzubinden. Wenn zwei Geschwister aus ihrer gemeinsamen Kindheit erzählen, können sie sich gegenseitig beim Erinnern anregen und Einzelheiten hervorlocken, die sonst nicht zur Sprache gekommen wären. Ein Ehepaar kann für die gemeinsamen Kinder und Enkel aus der Familiengeschichte erzählen. Eine Mutter, die ihr Leben gründlich dargestellt hat, wünscht sich noch ein paar Außenperspektiven dazu: der Ehemann und die drei Kinder erzählen, was diesen Menschen aus ihrer Sicht ausmacht, und geben dem Lebensbild eine ganz andere, jeweils persönliche Note.

Die Kunst liegt darin, diese unterschiedlichen Erzählstränge in geeigneter Weise zusammenzuführen. Da jede Erinnerung auch Interpretation, jede Rekonstruktion auch neue Schöpfung ist, gilt es, die einzelnen Sichtweisen zu erhalten und wertzuschätzen. Ein Ehepaar, das nach Jahrzehnten des Zusammenlebens eine symbiotische Gemeinschaft geworden ist, mag mit einer gemeinsamen „Wir“-Stimme erzählen können. Wenn sich jedoch herausstellt, dass nur einer der Partner die Wortführerschaft übernimmt oder es den anderen Partner oft danach verlangt, das Gehörte zu berichtigen, dann ist es besser, man trennt die Erzählenden und gönnt ihnen eigene Kapitel.

Wer seine Angehörigen über sich erzählen lässt, muss akzeptieren können, was dabei zur Sprache kommt – vielleicht nicht nur Lobendes, sondern auch Menschliches. Nur wenn beide Seiten sich trauen, den authentischen Blickwinkel zuzulassen und auszuhalten, machen solche Beiträge in einer Biografie Sinn.

Ich habe einmal ein kleines Büchlein geschrieben mit den Erinnerungen von fünf Geschwistern, die am Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihrer Mutter zusammen aus der Heimat geflohen sind, durch das brennende Berlin hindurch und immer weiter Richtung Westen. Sie haben nacheinander von dieser Zeit erzählt, fünfmal dasselbe Geschehen, die gleiche Zeit, die gleichen Beteiligten, und fünf ganz und gar unterschiedliche Geschichten. Weil die Erlebnisse, die eine Vierjährige an Mutters Hand aus dieser Zeit gespeichert hat, ganz andere waren als die ihres zwölfjährigen, hungrigen Bruders. Die Geschichten bleiben nebeneinander stehen und erzählen jede für sich eine eigene Wahrheit. Auch so kann eine biografische Erzählung mit mehreren Protagonisten aufgebaut sein.

Sind Sie am biografischen Schreiben interessiert?

Dann beachten Sie auch die anderen “Biografie-Typen” in meinem Blog: Typ 1 – “Ich habe nichts zu erzählen”, Typ 2 – “Ich könnte Bände füllen mit meinen Erlebnissen”, Typ 3 – “Der/die Erfolgreiche”, Typ 4 – “Was sollen die Leute denken?” und Typ 5 – “Was bleibt, wenn ich gehe?”