Aus der Tiefsee der Erinnerungen steigt manchmal unvermutet Erstaunliches auf, wenn
man den richtigen Köder auswirft. Diesmal war mein Köder ein eigener Schreibimpuls,
den ich in der Schreibwerkstatt gestellt hatte: „Schreibe über einen fremden Ort oder
einen bekannten Ort, der dir fremd geworden ist. Wer warst du in der Fremde? …“
Schon ging mein innerer Film los: Ich war ein Wessi-Kind auf DDR-Reise, zehn Jahre alt,
1980. Ein sattes, sauberes Kind, das vom Leben noch wenig wusste. Ein Kind, das die
Eltern mit nach „drüben“ genommen hatten, in die alte Heimat, aus der sie als Adlige im
Rahmen der „sozialistischen Bodenreform“ nach dem Krieg vertrieben worden waren.
Von der anderen Seite aus war die Mauer grau, graffitifrei, und hieß
„antiimperialistischer Schutzwall“.
In der DDR war ohnehin vieles grauer als bei uns, und am allergrausten schien mir
Bernburg an der Saale zu sein, wo wir Fräulein Holstein besuchten, früher Hauslehrerin
meiner Mutter. Die alte Dame wohnte im Keller eines unsanierten Altbaus. Es hätte
trostlos und bedrückend wirken können, wenn sie selbst nicht über die Maßen gestrahlt
hätte, als sie uns empfing. Als Wessi-Kind sind mir die Kontraste in unvergesslicher
Erinnerung: Das in sich zusammengefallene Haus in der Gebäudereihe gegenüber, wo
wenige Wochen zuvor noch Leute gewohnt hatten, wie Fräulein Holstein erzählte. Man
habe sie wegen Einsturzgefahr umgesiedelt, und kurze Zeit später hatte das Haus
aufgegeben. Es hatte keine Kraft mehr gehabt. Hoffentlich hielt das Haus noch eine Weile
durch, in dessen dunkler Kellerwohnung jetzt, dankbar und glücklich, Fräulein Holstein
strahlte. Sie wollte uns, ihren lieben Gästen, etwas ganz besonders Bezauberndes zeigen,
woran sie sich immer wieder erfreute. Dazu nahm sie uns mit auf einen kleinen
Spaziergang.
„An der Saale hellem Strande“
Wir gingen die unsanierte Straße hinunter, bogen um die Ecke und blickten auf einen
ganzen Stadtteil, der in Trümmern lag. Fräulein Holstein schien ihn nicht zu sehen, sie
lief zielstrebig weiter. Ich fragte mich, ob man nach dem Krieg noch nicht zum
Aufräumen gekommen war oder ob diese Häuser alle später eingefallen waren wie das
Haus von gegenüber, aus dem gerade noch rechtzeitig die letzten Bewohner ausgezogen
waren. Was konnte es hier Bezauberndes geben?
Es gab ein Türmchen, ich erinnere mich nicht an das Gebäude, das es trug. Zur vollen
Stunde spielte dort ein Glockenspiel. Es war beinahe so weit, Fräulein Holstein sorgte für
die nötige Andacht. Wir hielten die Münder und spitzen die Ohren, um unbedingt
mitzukriegen, was diese Stadt bezauberte, da hörten wir es: „An der Saa – le hellem Stran
– de“. Acht Töne und eine alte Frau, die sich von ihnen das Herz öffnen ließ.
Das Leben ist schön, wenn man die Gabe hat, es auf die richtige Weise zu betrachten.
Tauchen in Ihrer Erinnerung auch gelegentlich solche Geschichten auf? Schreiben Sie sie auf! Sie wissen nicht, wann sich mal wieder ein geeigneter Köder dafür findet. Wenn Sie auf den Geschmack gekommen sind, lassen Sie sich auch von meinen anderen Biografischen Impulsen im Blog anregen.