As slow as possible“ ist ein Orgel-Stück von John Cage überschrieben. Festgelegt sind nur die Tonhöhen und Zeitproportionen. Geschrieben war das Werk für einen Wettbewerb, bei dem um einen fünf- bis zehnminütigen Beitrag gebeten wurde. Der Organist Gerd Zacher, dem Cage das Stück gewidmet hat, zog es bei der Uraufführung auf eine Länge von 29 Minuten. Aber was bedeutet „so langsam wie möglich“ eigentlich bei der Orgel, bei der ein Ton nur dann verklingt, wenn die Luftzufuhr abgeschnitten wird?

Ein Orgel-Kunst-Projekt in Halberstadt

In der ehemaligen Klosterkirche St. Burchardi in Halberstadt ist eine eigenwillige Interpretation von „As slow as possible zu erleben: Das Cage-Stück wird über einen Zeitraum von 639 Jahren gestreckt, was man aus der Orgelgeschichte der Stadt abgeleitet hat. Generationen von Menschen können also das gleiche Konzert besuchen, und niemand wird es je vollständig hören können. Eine Viertelnote erstreckt sich bereits über einen Zeitraum von vier Monaten. Richtet man seinen Besuch also nicht ganz gezielt nach dem Kalender aus, wenn ein Tonwechsel ansteht, wird man bestenfalls einen Klang erleben – wenn nicht gerade Pause ist.

Wird diese künstlerische Idee über hunderte von Jahren tragen, oder ist sie nicht doch in ihrem Ansatz schon ein wenig dürftig? Darüber streiten Komponisten, Organisten, Musikwissenschaftler, Orgelbauer, Theologen und Philosophen lustvoll, und ganz normale Besucher reihen sich ein.

Ich habe mich, zunächst wenig begeistert, von Freundinnen überreden lassen, der Burchardi-Kirche einen Besuch abzustatten. Wo wir ohnehin schon in Halberstadt waren, konnte ich auch einer spinnerten Idee eine Chance geben. Doch nie hätte ich mir ausgemalt, dass mich ein einzelner, stehender Klang eine Stunde lang faszinieren würde.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Es war wie die „Entdeckung der Langsamkeit“, ein Klang, der für den Augenblick geschrieben war und der ganz ohne Mephistos Zauberkraft verweilt, bis man ihn in jeder möglichen Art und Weise ausgekostet hat. Erlebte Gegenwart, die sich zwischen Vergangenheit und Zukunft ausdehnt, bis der Besucher sie freiwillig zurücklässt. Vergangenheit, denn ich bin längst wieder im Siegerland angekommen, und doch wohl immer noch die gleiche Gegenwart, der gleiche Klang in dieser Kirche, der sich nicht um die Geschwindigkeit schert, mit der sich die Welt außen herum verändert.

Tatsächlich sind bis zum nächsten Pfeifenwechsel fünf Töne zu hören, eine kleine Sekunde in tief wummerndem Bass, eine None in höherem Register, ein Ton gedoppelt – schräg insgesamt. Und doch unterschiedlich schräg, wenn man sich über den Schotterboden durch die alte Kirchenruine bewegt. Die Bässe wummern anders, wenn ich in einer Nische stehe, als unter dem hohen Kirchendach. Mal bringt die kleine Sekunde die Fußsohlen in Resonanz, mal steigt sie hoch bis in den Bauch.

Und während ich so umherstreiche, um den Klang von allen Orten aus und mit allen Sinnen auf mich wirken zu lassen, lese ich auf Tafeln an der Wand die Namen von Spendern für dieses transepochale Konzert und philosophisch-optimistische, teils religiöse Sprüche zur Zeit. Für jedes Jahr hängt eine Tafel da. „Was wird geblieben sein?“, fragt eine Tafel. Buddha zitiert eine andere: „Nimm dir jeden Tag die Zeit, still zu sitzen und auf Dinge zu lauschen. Achte auf die Melodie des Lebens, welche in dir schwingt.“ Ein paar Hundert Jahre hat dieser Satz schon überlebt. Ob man ihn im Jahr 2289, für das er bestimmt ist, noch in Halberstadt lesen können wird?

„As slow as possible“ ist in acht Teilen notiert, von denen einer ausgelassen und einer wiederholt werden soll. Der erste Teil wird noch bis 2072 musiziert. Bis zum 4. September 2640 läuft das ganze Stück. Wer sich also jetzt angeregt fühlt, einen Ausschnitt daraus zu erleben, hat vielleicht nicht alle Zeit der Welt dazu, kann aber doch einen beliebigen Teil seiner Lebenszeit dafür einsetzen.

Es gibt ein Cage-Begleitprogramm, und ehrenamtliche Helfer verkaufen in der Kirche  Merchandising-Artikel. Auf Youtube kann man sich den Livestream ansehen, sogar einen Klangwechsel nachverfolgen.

John Cage starb 1992, Jahre bevor dieses Orgel-Kunst-Projekt in der Burchardi-Kirche in Halberstadt begann. Aber hätte es ihm gefallen, diese Aufführung von geradezu religiösen Dimensionen, ihm, der so gerne bestehende Grenzen sprengte? Zumindest liebte er Fragen, und er hätte vielleicht auf diese typische Art und Weise geantwortet: „That’s a very good question. I should not want to spoil it with an answer.“

Mehr über die Magie der Zeit lesen Sie in meinem gleichlautenden Blogartikel – hier!