Wie verlässlich ist das Gedächtnis?

Je älter wir werden, desto mehr verschiebt sich der Fokus weg von den großen Erlebnissen, hin zu den Erinnerungen. Die Alten verfügen über den reichsten Schatz von Erfahrungen, weswegen sie in vielen Kulturen für ihre Weisheit verehrt werden.

Erinnern kann ein Antidepressivum sein. Wer sich vergegenwärtigt, was er schon alles bewältigt hat, baut Ängste ab und schaut zuversichtlicher nach vorn. Altersverwirrte Menschen kann man stärken, indem man sie von früher erzählen lässt.

Erinnerungen brauchen wir auch, um uns die Zukunft vorstellen zu können. Dazu spielen wir auf der Bühne unseres Bewusstseins Erinnertes nach. Aus Versatzstücken alter Erfahrungen und Eindrücke konstruieren wir erwartete Geschehnisse und sind in der Lage, sie uns bereits plastisch vorzustellen. Ohne Erinnerungen bliebe die Zukunft leer. Doch Erinnerungen sind luftige Gebilde, die sich aus Fakten und Fiktion zusammensetzen. Mark Twain witzelte dazu: „Ich habe in meinem Leben einige schreckliche Dinge durchgemacht, von denen manche sich tatsächlich ereignet haben.“ Jeder kennt das: So schrecklich, wie wir es uns vorgestellt haben, wird es selten.

Das autobiografische Gedächtnis ist kein Videorekorder. Vielmehr gleicht es einem riesigen Meer von Erinnerungen. Viele von ihnen sind in der Tiefsee verborgen und nicht ohne Weiteres zugänglich. Einige Inseln ragen heraus und laden zum Verweilen ein, wir kommen immer wieder auf sie zurück. Das sind die „selbstdefinierenden Erinnerungen“. Mit ihrer Hilfe interpretieren wir die Welt. Sie geben Auskunft darüber, wer wir sind und wie wir so geworden sind. Erinnerungen dieser Art lösen starke Gefühle aus – sie bringen uns „von null auf hundert“. Sie sind wie Familienmitglieder immer um uns. Sie ziehen andere, ähnliche Erinnerungen an, mit denen zusammen sie Leitmotive oder Lebensmelodien bilden. Und oft kreisen sie um selbst gesetzte, wichtige Ziele im Leben, bestimmen also unser Selbstbild und unsere Identität.

Wenn wir auf das Leben zurückblicken, neigen wir auch dazu, eine kohärente Geschichte zu erzählen. Wir angeln aus dem Erinnerungsmeer das, was am roten Faden anbeißt, der an der Rute unseres heutigen Selbstbilds angeknüpft ist. Wenn wir unglücklich sind, erinnern wir uns eher an Negatives. Selbstdefinierende Glaubenssätze wie „ich bin immer schon ein Pechvogel gewesen“ können so fest im eigenen Selbstverständnis verankert sein, dass man Erinnerungen, die für das Gegenteil sprechen, nicht mehr erreicht.

Erinnerungen kann man nicht vollständig trauen. Sie sind beeinflussbar. Oft verschmelzen wir mehrere Ereignisse zu einem vermeintlichen Erlebnis. Manchmal mischen wir auch Erzählungen anderer hinein oder unterlegen eine Erinnerung mit einem Sinn, der mit dem ursprünglichen Ereignis nicht verknüpft war. Besonders anfällig dafür sind die oft erinnerten und immer wieder erzählten Repertoire-Geschichten. Sie erzählen von Erlebnissen, die man erinnert, „als wäre es gestern gewesen“, und die bei jedem Erzählen besser werden. Wer schon mal „Stille Post“ gespielt hat, weiß, was in solchen Fällen mit der Ursprungsbotschaft passiert.

Diese Unzulänglichkeiten der Erinnerung, was ihren absoluten Wahrheitsgehalt angeht, sind andererseits auch eine Chance: „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“, nach dieser Weisheit des Psychologen Milton Erickson wurden bereits mehrere Bücher benannt. Wenn Erinnerungen so beeinflussbar sind, kann ich alte Skripte umschreiben, die Perspektive wechseln, die Angel mit dem roten Faden anderswo auswerfen und mit besseren Erinnerungen auch die Zukunft positiv beeinflussen. Auch das sagte Erickson: „Die Ressourcen, die du brauchst, findest du in deiner eigenen Geschichte.“ Man muss nur an der richtigen Stelle angeln.