Authentisch sein, das ist eine wachsende Sehnsucht: Einfach so sein, wie ich bin; mich nicht mehr verbiegen müssen; niemandem nach dem Mund reden; die Frage überwinden, was andere von mir denken mögen… Das klingt befreiend! Ein authentischer Mensch strahlt aus, dass er zu sich selbst steht, zu seinen Stärken und Schwächen. Er lässt die Umwelt spüren, dass er im Einklang mit sich selbst ist.
Auch wir Geschichtenschreiber wissen: Die Menschen wollen Authentisches lesen! Geschichten aus dem wahren Leben, von anderen, die so sind wie Du und ich. In einer Welt, in der man alles Mögliche verkauft kriegt, soll es um das Echte gehen. In der Datenflut der Fake-News um das Wahre. In Zeiten geklauter Identitäten und des leichten Betrugs um das Ehrliche. Doch darin liegt gleichzeitig das Problem: Die Wirklichkeit ist selten eindeutig. Das Echte, Ehrliche und Wahre ist zumeist eine Frage der Perspektive.
Authentisch – das ist nach Duden glaubwürdig, gesichert und unverfälscht. Als Charaktereigenschaft ist „authentisch“ die Schnittmenge zwischen Schein und Sein, wenn denken, fühlen, reden und handeln übereinstimmen. Karriere-Berater empfehlen, eben diesen Eindruck zu erwecken. Und hier beginnt die Inszenierung des Authentischen oder das Theater um das vermeintlich Echte.
Inszenierung mit Echtheitseffekt
In der Redekunst versteht man unter „Authentizität“ eine Inszenierung, die einen Wirklichkeits- oder Echtheitseffekt zu erzeugen sucht. Die Hörer sollen dem Redner entsprechende Eigenschaften zuschreiben. Dabei geht es nur darum, wie er rüberkommt! Es geht um Selbstmarketing, Image-Design und das Schaffen einer Persönlichkeitsmarke. Bei dieser Zuschreibung von „Authentizität“ gibt es den aus den sozialen Medien bekannten Filterblasen-Effekt: Viele empfinden ihr Gegenüber schon dann als glaubwürdig, wenn der- oder diejenige sich den eigenen Vorstellungen entsprechend verhält oder äußert. Es wird also der als besonders „authentisch“ empfunden, der seine Rolle besonders gut spielt. Wirklich authentisch oder nicht: Er gewinnt zu Recht das Bewerbungsgespräch, weil er die Fähigkeit bewiesen hat, professionell zu handeln (wie die Rolle es erfordert).
Aber wo bleibt nun das Echte, Ehrliche und Wahre? Authentische Menschen verkörpern ihr „wahres Selbst“, das heißt, sie handeln gemäß ihren Werten, Gedanken, Gefühlen, Überzeugungen und Bedürfnissen. Dabei lassen sie sich von äußeren Einflüssen nicht bestimmen. Man kann darin ein Ideal sehen: Niemand ist frei von äußeren Einflüssen. Häufig halten uns Ängste von dieser Art der Authentizität ab. Was sollen die Nachbarn von mir denken? Wie verhält sich mein Chef, wenn ich zeige, wie ich wirklich bin? „Echt“ sind nicht nur meine Sonnenseiten: mein „wahres Selbst“ kann auch neurotisch, egoistisch, karrierebeflissen, materialistisch, geizig, bequem, naiv oder pedantisch sein. Strebe ich wirklich an, mich auch in diesen Eigenschaften „authentisch“ zu geben?
Wohl kaum: Den meisten Menschen reicht die Inszenierung. Natürlich, sympathisch, unbescholten – so wollen wir gerne wirken. Bei anderen haben wir es ebenfalls lieber, wenn sie sich an bestimmte Konventionen halten, als zu sehr ihr „wahres Selbst“ herauszukehren.
Echt oder kultiviert?
Bei Twitter, Facebook und Co. begegnen uns Verschwörungstheorien, anonyme Hass-Kommentare und unverfälschte Geltungssucht: Ist darin authentischer Selbstausdruck zu sehen, weil sich selten jemand persönlich dafür verantworten muss und daher kein Grund besteht, Konsequenzen zu fürchten? Echt oder nicht: Wir hätten es gerne kultivierter, auch auf Kosten der Natürlichkeit.
Authentizität als Ideal fußt auf verschiedenen Voraussetzungen: Man braucht ein gesellschaftlich kompatibles Wert-Gefüge und eine hohe Selbsterkenntnis; nur was einem bewusst ist, kann man vor äußeren Einflüssen schützen. Man braucht ein hohes Maß an Ehrlichkeit, vor allem sich selbst gegenüber. Konsequentes Handeln ist nötig, auch in Fällen, in denen sich das nachteilig auswirken kann. Und man muss in seinen Beziehungen aufrichtig sein, unter Verzicht auf Selbstverleugnung.
Wer gerne daran arbeiten will, „authentischer“ im Sinne dieses Ideals zu werden, kann beispielsweise mit diesen drei Fragen beginnen: In welchen typischen Situationen würde ich mich gerne anders verhalten? Welchen Menschen gegenüber? Und was möchte ich bei nächster Gelegenheit konkret sagen oder tun? Und dann: antworten, experimentieren, weiterentwickeln in Richtung Einklang mit sich selbst!