Kinder balancieren auf Trümmerwänden, spielen mit scharfkantigen Granatsplittern und streunen in der Gegend herum, um Erfahrungen aller Art zu sammeln – Hauptsache, sie sind mit dem Glockenläuten wieder zu Hause. War das gefährlich? Ihre Eltern haben sich in den 40er Jahren keine Sorgen gemacht. Der Krieg war vorbei, das war der wesentliche Sicherheitsgewinn. Jetzt konnte es nur noch bergauf gehen.
Als ich in den 70er Jahren Kind war, sind wir samstags mit den Nachbarskindern in den Wald gezogen zum Budenbau. Dafür bedienten wir uns in den Werkzeugkammern der Väter an allem, was wir dafür gebrauchen konnten. „Stör die Kinder nicht beim Spielen!“, raunte man sich unter Erwachsenen zu. Wir hätten uns in die Finger sägen können und mit dem Hammer auf den Daumen hauen. Hätte man uns besser beschützen sollen? Unseren Eltern war die freie Entwicklung ihrer Kinder wichtig, dass sie sich ausprobieren konnten. Erfahrungen müssen gemacht werden, um verstanden zu werden, aus Schaden wird man klug. Wem mal eine Kinderlaterne abgebrannt ist, der passt künftig besser auf mit Feuer, und wer vor dem Indianerzelt frühzeitig „Friedenspfeife“ geraucht hat, lässt mit höherer Wahrscheinlichkeit später die Finger von Tabakwaren aller Art.
“Gefahr” – abhängig von Zeitgeist und Entwicklung
Was als „Gefahr“ betrachtet wird, ist vom Zeitgeist geprägt und wandelt sich auch im Laufe der eigenen Entwicklung. Früher fuhr man ohne Helm Motorrad, ohne Sicherheitsgurt und Airbag Auto, und die Kinder schliefen, wenn es spät geworden ist, im Kofferraum. Heute trägt man schon auf dem Fahrrad Helm, und die Kinder sind im Sicherheitssitz fixiert. Abgesehen von der gesetzlichen Lage käme einem alles andere halsbrecherisch vor.
Unser Leben ist dank Arbeitsschutz und Risikomanagement sicherer geworden. Trotzdem steigt die individuelle Angst vor Gefahr. Hinter jedem Kind läuft ein helikopternder Elternteil hinterher. Es gibt die stumpfe Kinderschere, das abgerundete Kindermesser und die gepolsterte Kinderecke. „Muss erst was passieren?“, fragen wir sorgenvoll, während wir den Kindern zum Rollschuhfahren Protektoren aller Art anlegen. Das typische „Kinderknie“, meist dick verschorft, begegnet einem seltener als früher.
Ansteckende Angst
Die Sorge vor möglichen Bedrohungen steckt an: Trauen sich andere im Dunkeln nicht mehr in den Wald, kommt das auch mir gefährlicher vor. Kann man sich als Fahrradfahrer überhaupt noch auf die Straße trauen? Immer wieder hört man von den schweren Unfällen, zu denen es kommt, weil wieder ein Radler übersehen wurde.
Ein Aspekt des Gefahr-Empfindens ist sicher die gute Informationslage heute. In Zeiten der Pandemie kann ich täglich aktualisierte Zahlen lesen, wie viele Neuinfektionen es in Südkorea gab und wie viele Menschen in Brasilien an Covid 19 gestorben sind. „Empathische Angst“ kann mich da leicht beschleichen: Wechsel ich den Gang im Supermarkt, wenn mir jemand ohne Mund-Nasenschutz entgegenkommt? Und sage ich den Besuch bei Freunden lieber ab? Es gibt den „Typ Mallorca“, der vor Massenpartys auch in der Pandemie nicht zurückschreckt und den „Typ Einsiedler“, der lieber jeglichen Menschenkontakt vermeidet.
Doch „nur wer wagt, gewinnt“: Um im Leben weiterzukommen, muss man immer wieder den Schritt in die Unsicherheit wagen. Alle Heldengeschichten handeln von der Gefahr und ihrer Überwindung. Ohne Risiken gibt es keine Entwicklung. Doch was ist noch als „kalkuliertes Risiko“ zu sehen, was als Leichtsinn? In der Betriebswirtschaft versucht man, solche Fragen objektiv zu berechnen, Wagniskosten und Vermeidungskosten gegeneinander aufzuwiegen. Persönlich handelt man eher nach „Bauchgefühl“.
Wie ist es bei Ihnen: Wo stellen Sie sich der Gefahr? Neigen Sie eher zu Angriff oder Flucht?
Wo wagen Sie ein Risiko?
Welchen Preis sind Sie bereit zu zahlen, um die sichere „Komfortzone“ zu verlassen und sich neue Horizonte zu erschließen?
Woher nehmen Sie den Mut dazu?
Wovon fühlen Sie sich heute bedroht?
Hat sich Ihr Verständnis für Gefahren im Laufe des Lebens gewandelt, und falls ja: Wodurch?
Nehmen Sie sich einen Stift und schreiben Sie Geschichte!